Don Bosco auf dem Jugendhilfetag: "Begleitetes Scheitern muss möglich sein"
München – Die Salesianer Don Boscos in Deutschland haben am Dienstag, 18. Mai 2021 anlässlich der Eröffnung des 17. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetages, des nach Veranstalterangaben „größten Jugendhilfegipfels Europas“, auf die prekäre Lage und die wachsende Not junger Menschen am Rande unserer Gesellschaft aufmerksam gemacht.
Im Rahmen einer Fachveranstaltung, die pandemiebedingt online stattfand, forderte die katholische Ordensgemeinschaft – mit rund 2.000 angestellten Mitarbeiter*innen selbst Trägerin zahlreicher Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland – eine Verbesserung der Rahmenbedingungen und eine nachhaltige Kontinuität der Angebote für die langfristig erfolgreiche Wiedereingliederung schwer erreichbarer junger Menschen.
„Die Lebenssituation und die Problemlagen dieser Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind so unterschiedlich, dass auch ihre Betreuung stark individualisierte Konzepte erfordert. Sie sprengen derzeit häufig schlichtweg die Logik unserer bestehenden Systeme“, erklärt Pater Christian Vahlhaus, Provinzialvikar der Salesianer Don Boscos und zuständig für die 26 Einrichtungen seines Ordens in Deutschland. Eine oftmals noch nicht ausreichende Kooperation der Rechtskreise und der damit verbundenen zuständigen Institutionen (Jugendamt, Jobcenter, Agentur für Arbeit mit Jugendberufsagenturen) sowie Brüche in der Finanzierung von Projekten gefährdeten immer wieder den Erfolg des Einzelnen.
Die jungen Menschen leben oft am Rande der Gesellschaft und tauchen in der allgemeinen Wahrnehmung erst auf, wenn Situationen eskalieren: durch Verwahrlosung, Langzeitarbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Drogensucht oder Kriminalität. Der Anteil in der Gruppe der 20- bis 24-Jährigen in Deutschland liegt bei etwa neun Prozent (Statistisches Bundesamt, 2017), Tendenz steigend.
„Diese jungen Menschen brauchen die einkalkulierte Möglichkeit eines begleiteten Scheiterns. Aktuell fallen sie durch alle institutionellen Raster, wenn Einzelmaßnahmen der Jugendhilfe oder Angebote der Jugendsozialarbeit abgebrochen werden“, so Vahlhaus. Rückzug und Entkopplungsphänomene als individuelle Bewältigungsstrategie müssten ernster genommen werden. Denn durch die multiplen Problemlagen, die die jungen Menschen in ihrem jungen Leben aufweisen – z. B. durch schwierige familiäre Situationen, Schulabbruch, fehlende Ausbildung u.v.m. – bräuchten sie eine Umgebung, die sie neue Erfahrungen machen lasse: „Vertrauen und Verlässlichkeit, eine feste Anlaufstelle mit Ansprechpartnern, die auch nach einem gescheiterten Versuch nicht die Türen schließt, Angebote von offenen Treffs, Wohnmöglichkeiten in Notsituationen oder eine 24/7-Ansprechbarkeit“.
Die Salesianer Don Boscos arbeiten in mittlerweile sieben Einrichtungen in Deutschland (Berlin, Nürnberg, Köln, Chemnitz, Bamberg, Trier (in Planung) und Regensburg) mit der Zielgruppe entkoppelter junger Menschen. Die Erfahrungen aus dieser Arbeit und daraus resultierende Handlungsaufforderungen an Politik und Gesellschaft formulierten sie nun in einem Positionspapier, das im Rahmen des Fachkongresses auf dem 17. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag vor rund 300 Teilnehmenden aus den Bereichen der Jugendhilfe und Jugendsozialarbeit, von Trägern und Verbänden, vorgestellt wurde und Chancen und Erfolgsfaktoren in der Arbeit mit schwer erreichbaren jungen Menschen darstellt.
Wissenschaftliche Rahmenkonzeption
Basis dieser Positionierung bildet eine wissenschaftliche Rahmenkonzeption, die der Münchener Sozialwissenschaftler Dr. Andreas Kirchner, Professor für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit an der KSH München, im Auftrag der Salesianer Don Boscos erarbeitete. Seine Studie zeigt anhand der praktischen Arbeit in den Einrichtungen der Salesianer Don Boscos auf, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um eine langfristige und erfolgreiche Wiedereingliederung schwer erreichbarer junger Menschen zu gewährleisten.
„Die bestehenden, zum Teil hoch individualisierten Konzepte können erst dann verlässlich funktionieren, wenn finanzielle Mittel für Personalressourcen und -qualifizierung stabil einkalkuliert werden können, wenn Prozessfinanzierung kontinuierlich erfolgt und die Kooperation der Rechtskreise flexibel und ohne bürokratische Hürden gestaltet wird, damit individuelle Lösungen in enger Anbindung an staatliche Stellen kurzfristig möglich werden“, verdeutlicht Kirchner.
Das veröffentlichte Positionspapier appelliert deshalb an staatliche Stellen, Wissenschaft, sozialpolitische Entscheidungsträger sowie an Träger der Jugendhilfe, Vereine und Verbände, gemeinsam die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die erfolgreiche Arbeit mit dieser Zielgruppe langfristig etabliert werden kann.
Folgen der Corona-Pandemie
Sorgen bereiten den Salesianern Don Boscos und ihren Mitarbeitenden vor allem auch die Folgen der Corona-Pandemie, die die zum Teil prekäre Lage dieser jungen Menschen noch weiter aus dem Blickfeld rücken lassen und die oft schwierige Situation noch verschärfen.
Pater Christian Vahlhaus: „Wir dürfen diese Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht abschreiben. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass sie erst durch Arbeitslosen- oder Kriminalitätsstatistiken sichtbar werden. Und egal, mit welchen Einschränkungen oder Belastungen sie den Weg ins Leben finden müssen: Alle haben ohne Ausnahme ein Recht auf Begleitung, Bildung und Förderung. Dafür treten wir ein. Es ist Zeit, zu handeln.“
RefÖA/kh
Hinweise für die Medien
- Das Positionspapier „Schwer erreichbar – Perspektiven für die Arbeit mit jungen Menschen am Rande“ sowie weitere Informationen zu dieser Initiative finden Sie hier.
- Wir vermitteln gerne die Möglichkeit zu einem Interview mit P. Christian Vahlhaus oder Prof. Andreas Kirchner zur vertieften Auseinandersetzung mit dem Positionspapier. Kontakt: Katharina Hennecke, Referat für Öffentlichkeitsarbeit der Salesianer Don Boscos, hennecke[at]donbosco.de , Tel. +49 (0)89 / 480 08-360.
- Die Rahmenkonzeption mit dem Titel „Prekäre Positionen, Perspektiven für die Arbeit mit schwer erreichbaren jungen Menschen“ von Andreas Kirchner erscheint in der Reihe der „Benediktbeurer Beiträge zur Jugendpastoral“ im Juni 2021 im Don Bosco Verlag, ISBN 978-3-7698-2534-3, EUR 18,00. Jetzt vorbestellen.
Salesianer Don Boscos
Die Sorge um benachteiligte junge Menschen ist seit jeher Kernaufgabe und Kernkompetenz der Salesianer Don Boscos (SDB). Don Bosco selbst kümmerte sich im Turin des 19. Jahrhunderts um die allein Gelassenen und vernachlässigten jungen Menschen seiner Heimatstadt. In seiner Nachfolge arbeiten heute weltweit die Salesianer Don Boscos und ihre Mitarbeiter*innen, um jungen Menschen am Rande wieder einen Zugang zur Gesellschaft zu ermöglichen. Mit rund 14.600 Mitgliedern in 132 Ländern zählen sie zu den größten Männerorden der katholischen Kirche.
Zur Deutschen Provinz der Salesianer Don Boscos gehören rund 240 Ordensmitglieder, die sich an ca. 30 Standorten in Deutschland, der deutschsprachigen Schweiz und in der Türkei zusammen mit etwa 2.000 angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie vielen Ehrenamtlichen dafür einsetzen, dass das Leben junger Menschen gelingt. Weitere Informationen zur Arbeit der Salesianer Don Boscos in Deutschland unter: www.donbosco.de